Liebe(r) Rusty,
glaub mir: Viele von uns kennen diese Gefühle. Ich jedenfalls kenne sie – genau so, wie du sie beschreibst.
Wenn Vergessen wirklich der richtige Tipp wäre, dann wäre ja alles ganz einfach und man müsste sich fragen, warum wir Betroffenen da nicht schon früher drauf gekommen sind… Nein, Vergessen ist ganz sicher nicht der richtige Weg, mit den Erlebnissen umzugehen. Weil sie sich in unsere Seele, in unseren Körper, in unser Ich eingebrannt haben. Nur Menschen, die keine Ahnung haben, was sexuelle Gewalt anrichtet, können solche „Tipps“ geben.
Solche Menschen haben nicht verstanden, dass „die Vergangenheit vergessen“ für uns bedeutet, uns selbst im Stich zu lassen. Dass es bedeutet, das unschuldige Kind, das wir waren, bevor sie uns geschändet haben, zu verraten. Und dass dann – wie du schreibst – nichts mehr von uns übrig bliebe, das wir achten könnten.
Ich weiß schon, sie meinen, uns würde es besser gehen, wenn wir nicht mehr ständig die grauenvollen Erlebnisse vor Augen hätten. Aber eigentlich geht es ihnen darum, dass SIE nicht mehr mit unseren Erzählungen von unseren grauenvollen Erlebnissen belästigt werden wollen. Die Aufforderung, das „alte Zeugs“ zu vergessen, soll SIE vor unseren (ausgesprochenen oder unausgesprochenen) Anklagen, warum sie uns im Stich gelassen haben oder lassen, schützen.
Ja, es wäre für uns tatsächlich eine Erleichterung, endlich nicht mehr tagtäglich die grauenvollen Erlebnisse vor Augen haben zu müssen. Aber dazu müssten diejenigen, die schuldig und mitschuldig geworden sind, endlich die Verantwortung für das geschehene UNRECHT übernehmen. Sie müssten für Gerechtigkeit sorgen, für die Wiederherstellung der gerechten Ordnung.
„Gewalttaten lassen sich nicht einfach begraben. Dem Wunsch, etwas Schreckliches zu verleugnen, steht die Gewissheit entgegen, dass Verleugnung unmöglich ist. (…) Mord muss ans Tageslicht. Die Erinnerung an furchtbare Ereignisse und das Aussprechen der grässlichen Wahrheit sind Vorbedingungen für die Wiederherstellung der gesellschaftlichen Ordnung, für die Genesung der Opfer.“ Judith L. Herman
Solange sich der Großteil der Gesellschaft – inklusive PsychotherapeutInnen – weigert, dieses Morden zu sehen und anzuerkennen, die Täter zur Rechenschaft zu ziehen (statt die Opfer zum Vergessen aufzufordern!) und damit die gerechte Ordnung wiederherzustellen, werden wir Betroffene uns als „Neutrum“ oder „Aussätzige“, als „Verlorene“ und „falsch“ in der Welt fühlen.
Dass sie uns damit erneut beschämen, ist ein anderes Thema. Doch wir Betroffene müssen uns immer wieder aus dieser Denkweise der Täter (und Mittäter) befreien! Nicht WIR stehen auf der falschen Seite, sondern SIE!! WIR wissen um die Wahrheit (nämlich dass hier Unrecht aufrecht erhalten wird), die sie verleugnen. Weil sie in der Mehrzahl sind, fällt es ihnen oft so leicht, uns zu „Aussätzigen“ zu erklären. Doch das müssen wir immer wieder als Taktik zur Abwehr der Wahrheit entlarven – und uns wenigstens vor uns selbst immer wieder rehabilitieren.
Darin liegt derzeit offenbar unsere einzige Chance auf Hilfe: Uns selbst immer wieder rehabilitieren, den Zuschreibungen der Täter/Mittäter immer wieder entsagen, ihre Abwehrreaktionen als eben solche entlarven, die Wahrheit laut aussprechen und uns mit anderen Betroffenen zusammen tun. Auf Hilfe von außen sollten wir angesichts der Erfahrungen des Jahres 2010 nicht allzu große Hoffnungen setzen.